Im Gesangsunterricht stelle ich immer wieder fest: Wir können über unsere Mitte ohne Umwege direkt in unseren ureigenen Klang kommen. Das gilt sowohl für einen Schüler in seinen ersten Stunden als auch für professionelle Sänger. Sehr viel schneller als durch technische Methoden findet der Sänger über seine körperlich/seelische Mitte einen Zugang zu seiner Stimme. Er spürt schon in den ersten Stunden den Unterschied: Je freier er singt, je mehr er seine Mitte findet, desto größer und raumfüllender wird sein Klang. Er lernt auch, dass Anstrengung nicht zum Erfolg führt, sondern die körpereigene Weisheit außer Kraft setzt. Singt ein Sänger zentriert, singt er
– sauber (das Hören, ob sauber oder unsauber fällt völlig weg)
– verständlich – jedes Wort wird verstanden (auch hohe Stellen in einem Lied!). Die Worte sind in ihrer seelischen Qualität zu spüren.
– im Klang – der Raum wird ganz und gar erfüllt mit seinem Gesang
– berührend – denn er verbindet sich seelisch mit dem Lied und kann so die Zuhörer auf seiner Reise mitnehmen.
– frei und freudvoll, und dadurch entfaltet sich das Gesangsstück auf zauberhafte Weise.
– magisch – die Zuhörer sind gebannt und weichen nicht von seinen Lippen.
Es lohnt sich, auch weite Wege auf sich zu nehmen, um auf diese Weise singen zu lernen.
Singen – Die Heilkraft liegt in Deiner Mitte
In meinem Gesangsunterricht „Singen im freien Klang“ fühlt sich der Gesangsschüler in seine körperlich-seelische Mitte hinein. Die Liedtexte, die er oder sie zunächst liest, werden hierdurch umfassender und tiefer erfahren. Es fühlt sich so an, als ob in unserer Mitte ein inneres Wissen ist, wie sich der Text liest. Wenn wir uns Zeit nehmen und nach innen hören und unseren Willen entspannt zurücknehmen, kommen die Worte wie von allein: „Es liest“ und ich nehme erstaunt wahr, dass ich erst jetzt den Text verstehe. Es ist nicht der Verstand, der versteht, sondern Herz und Verstand vereinen sich vollständig im Erfassen des Textes. Habe ich nun den Text verinnerlicht, kann ich ihn singen, und zwar in einer ganz anderen Qualität als vorher. Dieses Wahrnehmen-können, dieses Sich-hineinfühlen-können, lässt die Stimme aufblühen und heilen. Der Körper entwickelt Heilkraft – der Mensch ist auf dem Weg zu sich selbst. Wenn ich im Singen „meine Mitte“ immer wieder neu suche und finde, so gelingt es mir auch, in meinem Leben wahrzunehmen, was mir gut tut und was nicht.
Singen im freien Klang und Focusing
In den letzten Wochen habe ich mich mit „Focusing“ beschäftigt. Entwickelt wurde diese „Technik“ von Prof. Dr. Eugene T. Gendlin, der Präsident des Internationalen Focusing-Instituts New York ist und an der Universität Chicago Verhaltenswissenschaften und Philosophie lehrte. Prof. Gendlin zeigt uns, wie wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Körpermitte richten können, um wahrzunehmen, was wir dort fühlen können. Doch das, was wir dort in unserem Innern wahrnehmen, ist mehr als wir zunächst in Worte kleiden können. Wir kennen die Emotionen Angst, Ärger, Wut … Das, was wir aber in unserem Innern wahrnehmen, ist „breiter“ und geht viel tiefer. Es ist ein unbestimmtes, unerklärliches, oft auch unangenehmes Gefühl, das wir zunächst nicht in Worte fassen können. Unser Körper ist allerdings in der Lage, Worte für diese Wahrnehmung zu finden, ja unser Körper, nicht unser Verstand! Wir können unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper, oft ist es unsere Körpermitte, richten und dieses Gefühl, Gendlin nennt es „Felt Sense“, befragen, was es uns denn sagen will. Jetzt ist es wichtig, uns Zeit zu geben, damit unser Körper Worte und Bilder findet (nicht der Verstand), die wir als „richtig“ empfinden. Die Worte, die dann kommen, haben eine besondere Qualität, sie gehen tiefer und zeigen in eine neue Richtung. Wenn ich das richtige Wort, mit der richtigen Bedeutung gefunden habe, folgt im Körper eine Erleichterung, als ob er sagen wollte: endlich hast Du mich gehört und nimmst mich ernst! Gendlin nennt diese Erleichterung einen „Shift“. Aus diesem „kleinen“ Schritt folgt meist eine Lösung des Problems und eine persönliche Weiterentwicklung. Das was Gendlin mit dem „Focusing“ aufzeigt, ist ein natürlicher Vorgang in unserem Körper.
Ich gehe davon aus, das jeder von uns schon einmal „Focusing“ gemacht hat, ohne es zu wissen. Doch es ist wichtig, Bewusstsein zu entwickeln, damit wir in Problemzeiten unsere Körperweisheit befragen können. Unser Verstand gibt uns meist keine Lösung. Oft hängen wir in Endlosschleifen in den immer gleichen Gedankengängen fest, wie in einem Gefängnis. Unser Körper bringt uns die Öffnung, die Erleichterung und die Lösung und damit eine persönliche Weiterentwicklung. Wir wachsen über uns hinaus!
In meinem Gesangsunterricht „Singen im freien Klang“ ( jetzt in Oldenburg und Überlingen) geht es auch darum, das Bewusstsein in die eigene Mitte zu führen und sich zu fühlen. Gerade in negativen Gefühlswahrnehmungen liegen unsere größten Entwicklungschancen. Aus unserer Mitte zu singen, bedeutet, in unserer körperlich-seelischen Balance zu sein. Dann fühle ich die Bedeutung der Liedtexte und kann sie frei singen. Es fühlt sich dann ganz leicht an, die Stimme bekommt Flügel, der Körper fühlt sich durchströmt und beglückt an. Ja, wir beglücken uns selbst und alle die uns singen hören. Wir wachsen über uns hinaus! PS. Die Bücher von Eugene T. Gendlin sind lesenswert und bewusstseinserweiternd. Man spürt zwischen den Zeilen eine wunderbare Persönlichkeit.